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Liebe Leserin, liebe Leser,

Ihnen allen kann nicht entgangen sein, dass es ist in der jüngsten Vergangenheit zu erheblichen Unstimmigkeiten in der öffentlichen Bewertung der Erzeihungsberufe gekommen ist. Vorläufiger Höhepunkt sind tarifliche Auseinandersetzungen zwischen den Arbeitnehmervertretern und den Vertretern der kommunalen Arbeitgeber. Dabei wird der Eindruck erweckt, als ginge es nur um eine Verbesserung der Vergütungen. Das ist definitiv nicht richtig! Neugierig geworden??? Dann lesen Sie doch bitte meine Ausführungen: Zur Gegenwart und Zukunft von Erziehung und Bildung! 

Zur Gegenwart und Zukunft von
Erziehung und Bildung

Die aktuelle Situation der tariflichen Auseinandersetzungen zwischen kommunalen Arbeitgebern und den Gewerkschaftsvertretern der sozialen Dienste und Erziehungsberufe veranlassen mich, noch einmal Gedanken zur Erziehung und Bildung niederzuschreiben.

Im November 2009 habe ich anlässlich meiner Lehrpreisverleihung auf dem sich daran anschließenden Arbeitstreffen „Didaktik“ bereits deutlich erklärt, dass die Grundlagen für eine exzellente Bildung und die Möglichkeiten einer förderlichen Erziehung bereits in den vorschulischen Einrichtungen gelegt werden müssen.

Alle Bemühungen, Bildung, Ausbildung und Weiterbildung an den Hochschulen zu perfektionieren, werden scheitern, wenn die Grundvoraussetzungen für eine solche Entwicklung in den Kindertageseinrichtungen nicht gegeben sind.

Auf der Grundlage meiner über 35-jährigen Tätigkeit in der Erwachsenenbildung und den nationalen und internationalen Würdigungen, die ich in dieser Zeit erfah-ren habe, gestatte ich mir die Kompetenz, zu den aktuellen Vorgängen über die Neuorientierung der Erziehungsberufe, Stellung zu beziehen.

Anders als in den Medien dargestellt, geht es nicht allein um eine Verbesserung der Bezahlung.

Natürlich klingt es unglaublich unverschämt, wenn Erzieher und Erzieherinnen plötzlich 10%(!) mehr Lohn verlangen, wenn das gesamte Wirtschaftswachstum nach Angaben des Bundeswirtschaftsministeriums, gerade 2% betragen soll. Wobei die Gegenüberstellung dieser zwei Prozentwerte in der medialen Darstellung an üble Taschenspielertricks erinnert. Während der erste Prozentwert sich auf die Ba-sisvergütung eines Erzieherberufes bezieht, orientiert sich der zweite Prozentwert auf den Zuwachs der gesamten Volkswirtschaft – und da geht es immerhin um Milliardenbeträge.

Es geht jedoch nicht primär um diese 10 Prozent! Vielmehr geht es darum, dass die Tätigkeiten der Erziehungsberufe in den letzten Jahrzehnten einen schleichenden Wandel erfahren haben. Eine Nachbesserung bei der Bewertung der inzwischen veränderten Schwerpunkte der Aufgabenbereiche dieser Berufsgruppen ist lange überfällig. Neu entstandene Eingruppierungsmerkmale fordern dringend eine An-passung an die wesentlich umfangreicheren Aufgaben, die mit einer erheblichen Verantwortung für die Entwicklung der Kinder verbunden sind.

Die öffentliche Meinung und die Meinung der „Entscheidungsträger“ über die vor-schulische Bildungsarbeit ist offensichtlich noch von einem Bild geprägt, dass mei-lenweit an der Realität vorbei geht. Die Zeit, in der die „Kindergartentante“ von mor-gens ab 8:00 Uhr bis in den frühen Nachmittag eine überschaubare Gruppe von Drei- bis Fünfjährigen betreut, ist lange vorbei.

Vorstellungen, dass es ausreicht Kinder zu bespielen, einen Waldspaziergang an-zubieten und dann in regelmäßigen Abständen noch ein „gesundes Frühstück“ einfließen zu lassen, sind Geschichte. Wer heute noch so über die Arbeit in den Kindertageseinrichtungen denkt, muss sich den Vorwurf „des Old School Denkens“ gefallen lassen. Eine „Lobby“ und eine angemessene Wertschätzung und Aner-kennung haben die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der Kindertagesstätten jeden-falls aktuell nicht.

Kindergartenarbeit ist heute eine verantwortungsvolle, pädagogische Tätigkeit, bei der neben der täglichen Betreuung auch Frühförderung, Integration und Inklusion gefordert und erwartet werden.

Die Vorschulen sind im Jahr 2000  eingestellt worden, die Begleitung der „Vor-schulkinder“ befindet sich seitdem vollständig in der Verantwortung der Kita-MitarbeiterInnen. Vorher von Grundschullehrerinnen und –lehrern durchgeführt, haben nun die Kita-MitarbeiterInnen die verantwortungsvolle Aufgabe, das „Brückenjahr“ zu gestalten und die Kooperation mit den Grundschulen zu pflegen.

Fordern jedoch die Kita-MitarbeiterInnen eine angemessene Bezahlung in Anlehnung der Bezüge eines Grundschullehrers oder einer Grundschullehrerin, wird dies als völlig überzogen und vermessen dargestellt.

Die Mitarbeiterinnen und die Mitarbeiter tragen heute eine weitaus größere Verant-wortung für die Entwicklung unserer Kinder, als das vor etwa 25 Jahren noch der Fall war. Die Stellenbeschreibungen und die Eingruppierungen müssen dieser Entwicklung entsprechend angepasst werden.

Die Realität sieht dagegen vernichtend schlecht aus. Trotz gestiegener Aufgaben sind die Gruppenstärken unverändert geblieben. Einstellungen bzw. Personalver-besserungen (mindestens 3 pädagogische Mitarbeiterinnen in jeder Gruppe) sind nicht erfolgt, oder wie z. B. für die Betreuung der Krippenkinder, nur nach massiver Intervention von Elternvertretern.

Dies ist in einem reichen Land, wie der Bundesrepublik Deutschland, ein höchst peinlicher Vorgang. Arbeitsverträge werden häufig befristet ausgestellt und nicht selten wird versucht, die nötigen Stellenbesetzungen mit Teilzeitkräften zu erfüllen. Bei allem Respekt vor Teilzeitarbeitenden, jeder verantwortungsbewusste Personalchef weiß um die Schwierigkeiten solcher Anstellungsverhältnisse.

Gute, verlässliche Leistungen und entsprechend hochqualifizierte Arbeit kann nur von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern erwartet werden, wenn sie sich nicht selbst in einer permanent prekären Arbeitssituation befinden.

Hinzu kommt, dass die vorschulische Bildungsarbeit, bzw. die Betreuung von den jüngsten Mitgliedern unserer Gesellschaft eine unglaublich wichtige, volkswirtschaftliche Bedeutung hat.

2015-06-11-Kita-Streik-in-Berlin-GEW-2015Wenn ich eingangs vom veralteten Bild der KindergartenmitarbeiterInnen gesprochen habe, sind wir doch heute auch in der Pflicht, ein zeitgemäßes Familienbild zu akzeptieren. Zeiten, in denen eine Mutter ab mittags für die Kinderbetreuung zur Verfügung steht, sind doch ebenfalls Geschichte. In den meisten Familien sind beide Elternteile berufstätig, um ein solides Familieneinkommen zu realisieren. Hinzu kommt die immer größer werdende Gruppe der Alleinerziehenden. Beide Lebensformen sind darauf angewiesen, dass qualitativ gut ausgestattete Kindertagesstätten mit ausreichend pädagogischen Fachkräften zur Verfügung stehen. Die für unsere ganze Gesellschaft wichtigen heute unverzichtbaren Betreuungseinrichtungen können aber nur dann gut funktionieren, wenn die dort tätigen MitarbeiterInnen entsprechend gut eingruppiert und das heißt auch, entsprechend gut bezahlt werden.

Nun höre ich schon die Kritiker aus den kommunalen Verwaltungen rufen: „Dafür haben wir kein Geld!“ Dieser Einwand ist völlig korrekt. Stadtkämmerer und kommunale Finanzverwalter wären im Augenblick völlig überfordert, sollte es zu den veränderten Merkmalen der Eingruppierung mit den dann nötigen Gehaltsverbesserungen kommen.

Nur der Einwand, es sei kein Geld vorhanden, ist eindeutig falsch! Die für derartige Neugestaltungen erforderlichen finanziellen Mittel befinden sich aktuell nur noch nicht in den Händen derer, die es dringend benötigen.

Die wirtschaftliche Gesamtsituation der Bundesrepublik Deutschland ist äußerst erfreulich. Der Finanzminister berichtet von noch nie dagewesenen Steuereinnahmen, brilliert mit seinem aktuellen Haushaltsplan und lobt selbst seine „schwarze Null“.

Der deutsche Aktienindex (DAX) befindet sich seit geraumer Zeit in einem unvorstellbaren Höhenflug und vielerorts erlauben sich Kommunen Neuverschuldungen für Bauprojekte, die zum Teil außerhalb jeder Vorstellungskraft liegen.

Natürlich werden jetzt Wirtschaftsexperten anmerken, dass das Eine mit dem Anderen doch gar nichts zu tun. Und genau das ist die nächste Irreführung. Natürlich haben diese Dinge bei erster Betrachtung haushaltstechnisch nichts miteinander zu tun, was im Umkehrschluss bedeutet: Die Haushaltspläne sind falsch!

Es ist längst hohe Zeit über eine Neuverteilung der Finanzen nachzudenken. Hier lege ich mich fest! Die Aussage, es sei kein Geld da, ist so nicht richtig. Richtig ist vielmehr, dass vorhandene Geld wird falsch eingeteilt.

Wir haben kein Finanzproblem, wir haben ein Verteilungsproblem!

Und nun müssen doch mal alle Finanzexperten dieses Landes den Eltern von Kindern im Vorschulalter erklären, warum dieses Verteilungsproblem auf dem Rücken dieser wehrlosen Kinder ausgetragen wird und warum die Erziehungsberufe darunter zu leiden haben?

Es gibt immer zwei Wahrheiten und die KVA hat es geschafft, die Dinge so zu verdrehen, als ginge es den gierigen KindertagesstättenmitarbeiterInnen um unverschämte 10% pauschale Gehaltserhöhung!

Die Wahrheit ist, es geht um die Verbesserung der Betreuung unserer Kinder, um eben diesem Nachwuchs hervorragende Bildungschancen zu ermöglichen.

Die Wahrheit ist dem Menschen zu zumuten!

: schreibt schon Max Frisch in seinen Tagebüchern.

Nehmen wir doch bitte alle zur Kenntnis, dass das Aufbegehren der Mitarbeiter der sozialen Dienste und der Erziehungsberufe ein Aufschrei für die Chancenverbesserung unseres Nachwuchses ist.

Eine Gesellschaft, die ihre Kinder nicht fördert, darf sich später nicht beklagen, wenn es zu durchgängigen Qualitätsverlusten auf den unterschiedlichsten Berufsebenen kommen kann.

Einen dieser Einbrüche erleben wir möglicherweise alle bereits in den nächsten Jahren! Gelingt es nicht, die Erziehungsberufe neu aufzustellen und entsprechend besser zu bezahlen, können Sie schon jetzt einem jungen Menschen nicht mehr raten, den Beruf der Erzieherin oder des Erziehers zu ergreifen, denn es wäre eine Entscheidung in eine vorprogrammierte Armut – inhaltlich wie finanziell.

Zum Ende meiner Ausführungen möchte ich einige Gedanken zur moralischen Verpflichtung über Erziehung und Bildung anmerken.

Wir alle, die wir in diesen Bereichen arbeiten, ob als Hochschullehrer, oder in allgemein bildenden Schulen, oder in Kindertagesstätten, oder als politisch verantwortliche in der Verwaltung, oder in den dafür zuständigen Tarifkommissionen tätig sind, uns alle eint eine Pflicht, Bildung als Chance für eine lebenswerte Zukunft weiterhin möglich werden zu lassen.

Es ist ein grober Verstoß gegen jede moralische Verpflichtung, wenn die Heranwachsenden in diesem Lande sich nicht darauf verlassen können, dass die demokratisch gewählten Vertreter unseres Volkes, ihre Fürsorgepflicht gegenüber jenen Berufsgruppen vernachlässigen, die die Basis für eine gute Aus- und Weiterbildung, kurzum für eine gute Bildung erst ermöglichen.

Das, was sich in diesen Tagen vor unser aller Augen abspielt, als eine überzogene ZEHNPROZENTFORDERUNG zu diskreditieren ist moralisch und ethisch nicht korrekt.

Die Entscheidungen, die heute getroffen werden müssen, sind Entscheidungen über die Qualität von Bildungsmöglichkeiten. Das Recht auf Bildung ist bei uns fest geschrieben und deshalb sind auch alle Verantwortlichen in der moralischen und nicht in der monetären Verpflichtung eine Verbesserung für diese Bildungschancen zu ermöglichen.

Berlin, im Juni 2015

© Prof. Joachim Köhler

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